Naomi ist schreckhaft. Auf einer Wiese steht ein Pferd, direkt an der Absperrung. Zupft über die Absperrung hinweg Gras. Naomi legt sich davor, macht auch das Pferd und frisst Gras. Als das Pferd ein richtig ordentliches Büschel mit Schmackes herausrupft, zuckt Naomi zurück, richtig heftig. Weichei.
Naomi ist schreckhaft. Gattin geht mit Naomi, ich mit Kim. Ich hinterdrein. Mit Kim. Wir wechseln die Straßenseite, gehen hinter Gattin und Naomi. Ich sage etwas zu Kim. Naomi hupft mit einem völlig panischen Blick nach hinten zur Seite.
Naomi ist ein Magermäuschen. Sie ist sehr schlank, hinten fast dünn. Sie wog zuletzt knapp 17 Kilo und ist genau so groß wie Kim (die gut 20 Kilo wiegt). Das mag Gründe in der Rasse bzw. dem Mix der Rassen haben, aber ich denke (auch), da geht noch was. Ein bis zwei Kilo kann Naomi noch vertragen. Wir arbeiten dran.
Naomi ist eine Schmusemaus. Während Kim im Grunde immer ein wenig Widerstand gegen körperliche Berührungen zeigt – sie dreht den Kopf weg, sie lässt sich nicht umarmen, sie lässt sich nicht gerne hochheben, sie ist einfach kein Schmuseviech par excellence -, kann man mit Naomi fast machen, was man will: hochheben, knuffeln, kuscheln, in den Arm nehmen, rumdrehen, egal. Sie lässt sich alles gefallen, und ich denke, solange man ihr nicht weh tut, gibt es da auch keine Grenzen.
Naomi ist ein Hund. Kim ist auch ein Hund, zweifellos. Mit einer starken Jagdhundkomponente. Aber sie ist ein Hund mit Vorgeschichte, war sie doch die ersten anderthalb Jahre ihres Lebens auf der Straße auf sich gestellt. Naomi ist ein Hund mit ganz normalen Eigenschaften, die durch Erbgut und Grundveranlagung geprägt sind, nicht durch Erfahrungen. Naomi frisst Mist, Kot anderer Tiere, sie frisst Gras, ohne es gleich zu erbrechen, sie mag nur wenig Obst, sprich: sie frisst nicht alles, sie frisst langsamer als Kim, sie wälzt sich – im Gras, im Sand, sicher auch im Dreck oder im Aas (wie das Kim I. auch gemacht hat) -, Naomi hat viele Angewohnheiten, die man gemeinhin von Hunden erwartet und auch erwarten kann, die Kim aber nicht hat, weil sie eben nicht nur Hund, sondern anderthalb Jahre Streunerin war, die überleben musste.
Naomi und Kim sind zwei grundverschiedene Hunde. Es ist ein Wunder, wie gut sie sich verstehen, und es ist ein Wunder, wie gut sie sich ergänzen, wenn sie sich ergänzen wollen – was nicht immer der Fall ist. Die Gattin meinte, die beiden ergäben ein perfektes Team für eine komplizierte Fährte. Die eine, Kim, arbeitet vorrangig mit den Augen, schaut, hat den Überblick, sieht Dinge in Entfernungen, die nicht mal wir Menschen abschätzen können; die andere, Naomi, ist der Nasenhund, der Rüssel ist meist dicht über dem Boden, und wenn auch noch nicht klar ist, wonach sie genau schnüffelt – bei Kim ist es das -, ist doch klar, dass Naomi der Nasenhund in dem Team ist, wenn es ein Team sein soll.
Am Ende stellt sich die Frage, was Naomi ist. Kim ist ein Jagdhund, ganz eindeutig. Exstreuner, Jagdhund. Da gibt es keinen Zweifel. Aber Naomi ist … ambivalent, so nennt man das, oder? Da ist von allem ein bisschen. Ein wenig Jagdhund, ein wenig Wachhund, ein wenig Schäferhund, ein wenig … keine Ahnung. Nichts von dem, was in Naomi steckt, ist wirklich übermächtig, vorherrschend, prägend. Von allem nur ein bisschen – und bei allem ein bisschen »Ach, ja, ich könnte ja jagen, wenn ich wollte, aber … ach, nö, heute nicht, vielleicht ein bisschen wachen, oder auch nicht … seufz, oder doch? Ach, ich weiß nicht …«
Ja. Das ist Naomi.
Mein Hexenmäuschen.