Überraschend

Serdar Somuncu
DER ANTITÜRKE
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2009 (gelesen 3. Auflage April 2013), Taschenbuch, 153 Seiten, ISBN 978 3 499 62510 7

VORBEMERKUNG
Ich bin bekennender Somuncu-Fan. Ich kann auch seinen Namen richtig aussprechen. Ich bin beinharter, bekennender Somuncu-Fan, der seinen Namen richtig aussprechen kann. Ich sammle alles von ihm. Ich lese alles, sehe alles, und ich glaube, es fehlt nicht viel, und ich könnte die Karriere eines Somuncu-Stalkers beginnen. Oder sein Manager werden. Egal.
Aber sein »Antitürke« hat mich sehr überrascht. Positiv, das darf ich vorweg bemerken. Auf ganz unerwartete Weise.

WORUM GEHT ES?
Eigentlich erwartet man bei dem Titel – »Der Antitürke« (ich würde mein linkes Ei darauf verwetten, dass man den Somuncu eingeredet hat) – und bei dem Rückseitentest – »Der Bullterrier des deutschen Kabaretts« und »Der Prophet der Provokation (Westdeutsche Zeitung)« – ein Buch, bei dem ein Türke – Somuncu eben – mit seinesgleichen so richtig zur Sache geht, um Abrechnung zu machen. Ruppig, grob, gemein, unflätig, wie man das von ihm kennt.
Tatsächlich sind die Arschgeigen, die dem Buch den Titel und vor allem den Rückseitentext spendierten (naja, die Westdeutsche Zeitung war schon immer ein Intellektuellensumpf sondergleichen), völlig auf dem den Leser irreführenden Holzweg.
Durchaus mit kabarettistischem Einschlag, aber nicht so grob, wie meine Frau es nicht leiden kann (ich mag es, wenn er ordentlich zulangt, der Gute), aber ansonsten sehr ernsthaft und informativ geht es um die Deutschen und die Türken in Deutschland, um die Türkei, um die Historie der deutschen Türken und der türkischen Türken, und all das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Völkern, nicht nur in Deutschland, auch in der Türkei, aber vor allem in Deutschland. Wie man es erwarten kann.

WAS GEFIEL?
Somuncu hat mich sehr überrascht. Ganz am Anfang finden sich zwei, drei winzige Passagen, die ich aus seinen Programmen von DVDs kenne, aber das sind nicht mehr als zehn, fünfzehn Zeilen. Ganz schnell verschwindet der Eindruck, dass man das alles kenne, und macht einer überraschenden Informationsflut Platz, die ich einfach nicht erwartete. Am Ende des Buches hatte ich nicht nur ein wenig durchaus angemessenes Kabarett Somuncuscher Art gelesen, sondern vor allem ein Buch, das ich allen Deutschen dringend empfehlen würde, die Probleme mit Türken, mit Moslems, mit Ausländern in Deutschland haben, gerade jetzt, gerade heute, gerade in Zeiten von PEGIDA und anderem Gesocks. (Somuncus Buch ist von 2009, und unter den Gesichtspunkten heutiger Nachrichtensendungen hatte ich manchmal den Eindruck, als sei er ein wahrer Prophet. Der hat 2009 noch Sachen vorweggenommen, die da gar nicht relevant waren. Und ins Schwarze getroffen.)

WAS GEFIEL NICHT?
Der Titel. Ich weiß nicht, ob Somuncu da mitreden durfte, aber »Der Antitürke« als Titel für dieses Buch ist völlig unpassend, an den Haaren herbeigezogen und – so sehe ich das – auf dem mental unterbelichteten Geistesacker von irgendeinem Marketingarschloch gewachsen. (Und Somuncu wurde gezwungen, zuzustimmen, sonst hätten alle wieder »Somuncku« zu ihm gesagt.)
Der Buchrückseitentext. Das ist an Dummheit genau so wenig zu unterbieten wie der Buchtitel. Die enthaltenen Informationen in diesem Text ersaufen in propagandistisch aufgemotzten Phrasen von Leuten, denen ich angeraten hätte, das Buch zu lesen, bevor sie nach dem Einschaltknopf ihres beschissenen Textcomputers gesucht hätten.
In dieser Beziehung ist die Verlagsarbeit (Titel, Cover, Buchrückseite) absolut jämmerlich und durchaus geeignet, in Erwägung zu ziehen, rororo ein Rohrrohrrohr in den Marketingarsch zu schieben.

ZITAT GEFÄLLIG?
Yep. Die folgenden Zitate versuchen, die Bandbreite des Buches aufzuzeigen, einerseits den kabarettistisch beeinflussten Teil, andererseits den ernsthaften, den informativen Part (der, der mich so überrascht hat).

Wohin mit den Komplexen?

Wenn es nur so einfach wäre. So schlecht es um den Umgang der Deutschen mit ihrer eigenen Identität steht und obskure Vehikel und zündlerische Ersatzdiskussionen als Ersatz für einen fundierten Diskurs über den Kern der Integrations- und Leitkulturdebatte bemüht werden müssen, so schlecht steht es mittlerweile leider auch um das deutschtürkische Verhältnis. Wir stehen heute, mehr als vierzig Jahre nachdem der erste türkische Gastarbeiter in Deutschland angekommen ist, vor den Trümmern eines gescheiterten Integrationsexperimentes. Die einst integrationswilligen Türken kehren sich ab von der Idee einer pluralistischen Gesellschaft, in der man von den gegenseitigen Einflüssen profitiert und den anderen unabhängig von seiner Herkunft und Religion respektiert. Sie riegeln sich sogar mehr und mehr ab, leben lieber nach den Regeln des Korans als nach denen des Grundgesetzes und bleiben aus Angst vor den Ansprüchen ihrer Gastgeber lieber unter sich, während die Deutschen zunehmend ratlos vor den Türen der Parallelgesellschaften stehen und sich noch nicht einmal fragen, welchen Anteil sie selbst dazu geleistet haben, dass sich diese bilden konnten. Mittlerweile gibt es unter den in Deutschland lebenden Türken immer weniger Anstrengungen, sich als Deutsche zu identifizieren, geschweige denn als gleichwertiger Teil einer deutschen Gesellschaft zu betrachten, so wie es auch unter den Deutschen wenig fundierte Kenntnis über die Lebensrealität der in Deutschland lebenden Türken gibt.
Dabei fordert niemand von seinem Gegenüber; dass er seine Eigenheit vollständig aufgibt und in der anderen Kultur aufgeht.
Der Türke darf seine Erinnerung an die Türkei genauso behalten wie der Deutsche seinen Anspruch an Deutschland. Erst wenn beide Seiten beginnen, von den Einflüssen des anderen zu profitieren, und die Frage nach der eigenen Identität nicht zur Zerreißprobe zwischen den Kulturen wird, beginnt die wirkliche Integrationsarbeit. Solange jede Seite darauf beharrt, einzig die deutsche oder die türkische Kultur in den Mittelpunkt zu stellen, so lange bleibt dieser Prozess sinnlos, und beide Seiten leben statt miteinander weiter aneinander vorbei.
Sosehr Integration aber auch Annäherung bedeutet, so wenig darf sie zur unterwürfigen Anpassung um einer oberflächlichen Anerkennung willen werden. Sein eigenes Wesen zu behalten heißt nicht, gegen den anderen zu sein. Das andere zu imitieren hingegen wirkt schnell anbiedernd. Ein Selbstbewusstsein ohne Arroganz, eine Offenheit ohne Anbiederung und eine Neugier ohne Angst vor Kontrollverlust ist der einzige Weg, den man gehen kann, wenn man diesen Vereinigungsprozess mit «heiler» Haut überstehen will. Dafür müsste man allerdings das eigene Bild des «Anderen» erst einmal korrigieren.
(Seite 28 ff.)

Außerdem widersprechen sich die Aussagen der Türkenfeinde. Entweder nehmen die Türken den Deutschen die Arbeitsplätze weg – dann können sie nicht arbeitslos sein –, oder aber die Türken profitieren von den deutschen Sozialsystemen, ohne zu arbeiten, dann können sie den Deutschen nicht die Arbeit wegnehmen.
(Seite 33)

Es gibt sogar Türken, die Türken so spielen, wie sie glauben, dass Türken sind, damit andere, die nicht wissen, wie Türken eigentlich sind, denken, dass Türken so sind, wie sie gespielt werden von Türken, die selbst nicht wissen, wie sie eigentlich sein müssten.
(Seite 34)

Bleiben Sie also ganz ruhig, wenn jemand versucht, Ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, nur weil Sie sich vor geblümten Kopftüchern ekeln und Ihnen Männer mit Vollbärten suspekt vorkommen. So wenig, wie ein Kopftuch mit Türken zu tun hat, so wenig ist ein Zottelbart der Ausdruck von islamischer Gläubigkeit. Das haben diese Leute, die sich heute Türken nennen, aber in Wirklichkeit eigentlich Araber genannt werden müssten, erfunden, um Ihnen Angst zu machen.
So wie der Nazi sich eine Glatze rasiert, seinen ganzen Körper bis zum Hals mit Nazisymbolen tätowiert, grimmig schaut und mit Springerstiefeln durch die Stadt marschiert, trägt das Türkenmädchen ihr Kopftuch und genießt es, wenn Sie glauben, sie hätte unter ihrem Schleier eine Kalaschnikow. So wie der Nazi Deutschland gerne mal mit dem Deutschen Reich verwechselt, so kann auch ein «Kopftuchnazi» nicht zwischen nationaler und religiöser Identität unterscheiden. Beide schaden sie dem Ruf des Durchschnittlichen. Ein Nazi repräsentiert Deutschland genauso wenig wie eine Kopftuchträgerin die Türkei. Hauptsache, man bleibt stets das Opfer in einer Welt, in der man von finsteren Mächten des moralischen Verfalls umgeben ist, gegen die man sich nur mit der Reinheit seines Glaubens zur Wehr setzen kann. Unklar bleibt auch, wer die Kampagnen steuert, die Extremisten gerne zum Anlass nehmen, tun sich verfolgt und beleidigt zu fühlen. Denn im selben Maße, wie man als Extremist anderen Unrecht tut, fühlt man sich auch ungerecht behandelt und diskriminiert. Kommt es der Selbstdarstellung dieser Leute vielleicht sogar entgegen, dass man sie zum Mittelpunkt von angstgelenkten Debatten macht? Sollte man sie nicht einfach ignorieren und ihnen so die Lust an der Provokation nehmen, statt sie vor jedes Mikrophon und jede Kamera zu zerren, um ihnen so noch eine Bühne zu bieten? Wurden zum Beispiel die Mohammed-Karikaturen nicht schon etliche Monate vorher veröffentlicht, ohne dass sich jemand dafür interessierte, bevor sie, gefördert durch eine sensationsgierige Berichterstattung, diesen weltweiten Aufstand der Empörung in der islamischen Gemeinde verursachten? Warum kam es gerade zu diesem seltsamen Zeitpunkt zu Protesten und nicht schon viel früher? Oder hatte nur zufällig jemand am Bahnhof in Bagdad eine dänische Zeitung in die Finger bekommen? Und wie werden die Bilder erzeugt, die wir dann in den Medien sehen? Gibt es in der arabischen Welt Verkaufsstände für kleinkalibrige Gewehre, mit denen vornehmlich Kinder wütend in die Luft schießen, oder kleine Büchlein mit Parolen, die man vorher lernen muss, um sie in eine westliche Kamera zu skandieren? Oder muss man als Reporter nur zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle sein, um aus der Fülle der Szenen die passenden Bilder für seine Berichterstattung zusammenzustellen? Oder werden bestimmte Bilder automatisch bestimmten Themen zugeordnet? Sobald es um Türken geht, sieht man eine dicke türkische Frau im Kaftan mit Aldi-Tüten durch Duisburg-Marxlohe laufen. Sobald es um Muslime in Deutschland geht, spricht ein Mufti mit Bart und grauem Anzug in halbwegs gebrochenem Deutsch über den nächsten Moscheebau. Sobald es um Kriminalität türkischer Jugendlicher geht, sieht man Straßenkids zu HipHop-Beat tanzen.
Warum werden diese angeblich akut-aktuellen Themen dann mit den immer gleichen Gesprächspartnern in jeder Talkshow besprochen, und warum sagt jeder etwas dazu, das so klingt, als wäre es unglaublich neu, obwohl er seine Informationen aus derselben Presse wie wir auch hat? Ist es also nur die deutsche Presse, die dieses verzerrt-stereotype Bild für ihre Zwecke benutzt, oder ist es vielleicht auch Teil einer Selbstvermarktung, dass man als Türke in Deutschland die Bedürfnisse der modernen Informationsgesellschaft zu seinen Gunsten nutzt, indem man ihr von Zeit zu Zeit genau das vorspielt, was sie von einem erwartet? Mal ist man der Türke am Rand der islamischen Fundament2lisierung, dann ist man der Vorzeige-Emigrant, mal ist man auf dem Weg nach Hause, dann ist man der Türke vor den Toren Europas, mal ist man Experte, wenn es um religiös motivierten Terrorismus in der Welt geht, dann hat man von alldem keine Ahnung.
(Seite 106 ff.)

Dabei ist unser heutiger Glaube mittlerweile ein individueller Zugang zu Gott und eigentlich nicht mehr zu verallgemeinern, schon gar nicht durch das Dogma einer Institution zu verwalten. Glaube in einer modernen Welt braucht keinen Vermittler mehr, der sich zwischen Gläubige und Gott schaltet. Glaube ist keine Vereinsmeierei, bei der sich jeder aussuchen kann, was er glaubt Glaube ist eigentlich etwas sehr Persönliches, etwas, das jeder mit sich selbst ausmachen kann. Bei den großen dogmatischen Weltreligionen geht es viel mehr darum, durch den Glauben die jeweilige Lebenssituation der Menschen zu ordnen und zu verbessern, denn Religion ist nichts anderes als ein Gesetz für Asoziale.
(Seite 123)

ZU EMPFEHLEN?
Für Somuncu-Fans: sowieso.
Für Fans deutschen Kabaretts: auch.
Für Leute, die etwas über Deutsche und Türken in Deutschland lernen wollen: unbedingt.
Für PEGIDA-Angehörige und andere Nazis: Für dergleichen »Volk« hat Somuncu noch ganz andere Sachen zu bieten, aber so als »Einstieg«, als »Warm-up« der wenigen Gehirnzellen, die überhaupt (noch) funktionieren, kann auch dieses Buch durchaus seine Wirkung entfalten. (Und wenn doch nicht, vielleicht schafft ihr Flachzangen es ja wenigstens, eine Suppe draus zu machen …)

NOCH WAS?
Dieses Buch war zum Jahresende 2014 eines meiner Lektürehighlights des Lesejahres. Ganz ohne Zweifel.

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