Zweigleisig oder zwiespältig?

Serdar Somuncu
DER ADOLF IN MIR
Die Karriere einer verbotenen Idee
WortArtisten, Köln, 2015, Klappenbroschur, 158 Seiten, ISBN 978 3 942454 17 9

VORBEMERKUNG
Zum einen wäre vorweg überflüssigerweise nochmals zu bemerken, dass ich ein großer Fan von Serdar Somuncu bin. Mich als Anhänger zu bezeichnen, träfe es nicht. Ich schätze sein Werk sehr hoch ein.
Zum anderen wäre zu bemerken, dass Somuncu in seinem programmatischen Auftreten zwiespältig scheint: einmal (schimpfwortkenntnisreicher) Prolet, dann (höchst wortgewandter) Intellektueller. Man weiß eigentlich nie genau, was einen im nächsten Moment erwartet. Nicht genau.

WORUM GEHT ES?
Somuncu begann 1996 eine sechs Jahre währende »szenische Lesereise« mit Adolf Hitlers Buch »Mein Kampf«. Er absolvierte über 1500 Auftritte und erreichte mehr als eine halbe Million Menschen. Noch heute ist er für diesen Anfang seiner Karriere in ganz Europa bekannt.
Tatsächlich waren Hitler, »Mein Kampf« und andere Themen im Zusammenhang mit der deutschen nationalsozialistischen Geschichte immer wieder Gegenstand in Somuncus Programmen. Mal mehr, mal weniger. Sehr beeindruckend war auch sein Programm zu Goebbels‘ Sportpalastrede, in der der berühmte Ausspruch »Wollt ihr den totalen Krieg?« getätigt wurde.

Im vorliegenden Buch gibt sich Somuncu stark autobiografisch. Er schreibt über seine Anfänge mit der »Mein Kampf«-Lesereise, und schildert das Zustandekommen der nachfolgenden Programme, welche Auswirkungen sie auch für ihn hatten, wie sie sich entwickelten, einzeln betrachtet und miteinander, als eine Abfolge von aufeinander aufbauenden Themen. Wer sich – wie ich – sehr für Somuncu als Person, als Kabarettist, als Mensch interessiert, wird in diesem Buch bestens informiert. Ich zitiere den Klappentext: Serdar Somuncu betrachtet »Erfahrungen dieser Zeit und verbindet sie mit seiner ganz persönlichen Entwicklung als Künstler auf der Bühne«.
Eine der Fragen, die ihn dabei beschäftigte und – nicht nur in diesem Buch – beschäftigt, ist die nach der Wirkung der »verbotenen Lektüre« »Mein Kampf«, die ja nun inzwischen wieder veröffentlicht werden kann. Und neben den autobiografischen Einblicken »schafft [er] eine spannende Verknüpfung zwischen ›Mein Kampf‹ und aktuellen Debatten rund um Rassismus und Integration in Deutschland«, so wiederum der Text auf der Buchrückseite.

WAS GEFIEL?
Hierbei muss berücksichtigt werden, dass ich als Somuncu-Fan natürlich völlig parteiisch bin. Aber bemerkenswert – wie auch schon in anderen Büchern – fand ich seinen Schreibstil, seine Art, zu formulieren. Das Wort »Fotze«, für das – so kolportiert er gerne scherzhaft – ein nicht unerheblicher Teil des Publikums in seine Veranstaltungen kommt, kommt nur einmal vor. Auch andere Verbalinjurien halten sich in extremsten Grenzen. Vielmehr zeigt Somuncu hier das, was ihn eigentlich ausmacht und was er eigentlich nur aus purer Gemeinheit hinter einer proletenhaften Maske verbirgt: Intellekt.
Seine »Lebensgeschichte« als Bühnenkünstler liest sich entspannt, flüssig, bestens formuliert, fast schön. Seine Gedankengänge sind paradoxerweise fast leicht, obwohl inhaltlich schwergewichtig. Er schafft es mit wenigen Worten und Sätzen Umstände und Tatbestände in Erinnerung zu rufen, die wir derzeit jeden Abend in den Nachrichten sehen können, aber längst verdrängen, weil wir es nicht schaffen, das auszuhalten, weil wir eigentlich nicht in dieser Welt leben wollen, nicht so, nicht unter solchen Umständen. Und Somuncu will das auch nicht, aber er geht nicht auf die Straße, sondern auf die Bühne, und seine Art und Weise, dagegen vorzugehen, gegen den braunen Sumpf und das braune Denken in unseren Hirnen, ist ungewöhnlich und bemerkenswert – mit der Betonung auf »merken« im Sinne von »erinnern«.

Zu dem inzwischen rechtefreien »Mein Kampf« und sich abzeichnenden neuerlichen Versuchen, das Buch zu verbieten, hat Somuncu seine eigene Meinung. Er hält ein Verbot für einen Fehler – und ich schließe mich dem an. »›Mein Kampf‹ bleibt auch ohne Kommentar und Anleitung eines der unlesbarsten und am schlechtesten geschriebenen Bücher der Zeitgeschichte, dessen wesentliche Inhalte von anderen zuvor schon formuliert worden sind und dessen Thesen zudem komprimierter in jeder rechtsradikalen Wochenzeitung zu lesen wären« (Seite 154). Und: »Entweder man verbietet alles oder gar nichts. Das Verbot und das Tabu sind sinnlos, solange es nur ein Tropfen auf den braunen Stein bleibt. Schlimmer noch, erst das Verbot macht diesen literarisch-ideologischen Schund zur Devotionalie.«
Und Somuncu hat recht, wenn er sagt, dass wir beginnen müssen, uns mit den Gedanken und den damit verbundenen Gründen »annähern« müssen, einen »souveränen Umgang damit entwickeln. Wir müssen verhindern, dass das Wissen, wie solche Katastrophen – wie im Dritten Reich – zustande kommen können und wie man sie zukünftig verhindern kann, ein Mysterium wird und bleibt. »Und nicht nur in Deutschland gilt es, diese Aufgabe zu bewältigen. Ob in Frankreich, Belgien, Holland, Österreich oder der Schweiz, erst wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen, dass Hitler auch in jedem von uns steckt und dass er ein Teil von uns ist, beginnen wir die wirkliche und fundierte Aufarbeitung unseres Schicksals in die Hand zu nehmen« (Seite 155).

WAS GEFIEL NICHT?
Nichts. Alles ist gut.

ZITAT GEFÄLLIG?
Siehe oben.

ZU EMPFEHLEN?
Unbedingt. Nicht nur für Somuncu-Fans. Nicht nur auch für Fans politischen Kabaretts. Eigentlich ist dieses Buch jedem Deutschen zu empfehlen. Dass es im Falle von Pegida-Anhängern, AfD-Mitgliedern und anderen braunen Gedankengutträgern Perlen vor die Säue sind, mag sein. Intelligente, intellektuelle Literatur ist nicht jedermanns Sache. Wer aber drauf steht und wer gerne ein paar andere, absolut nicht abseitige Gedanken zu aktuellen innenpolitischen und europäischen Themen im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik dieser Tage lesen möchte, der ist hier gut bedient. Und dank der biografischen Inhalte lernt man noch etwas über einen Menschen, der manchmal »Fotze« sagt, es aber nicht immer so kurz und bündig meint.

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