Die Hälfte ist rum

Eigentlich wären diese Zeilen letztes Jahr passender gewesen – aber da war ich geistig und seelisch schon fast auf Malta, da war kein wirklicher Platz für solche Gedanken. Dieses Jahr ist das ein wenig anders – und nicht unpassender, wenn ich einfach voraussetze, es Herrn Heesters nachmachen zu können und wenigstens 102 Jahre alt zu werden; dann stimmt ja wieder alles.

Es gibt ja Menschen, die sich schon ab 25 ihren Lebenshimmel grau verhängen, indem sie sich über ihr Alter Sorgen machen. Ich weiß nicht, ob man sich sein Leben damit nicht verdirbt, könnte es mir aber vorstellen; nachvollziehen kann ich es nicht, denn wenn mir irgendetwas das Leben verdorben hätte, dann muss es etwas in der Vergangenheit gewesen sein. Wie sich die in meinen Augen völlig unklare Zukunft zu solcherlei eignen sollte, kann und will ich nicht nachvollziehen.
Trotzdem macht man sich natürlich so seine Gedanken. Der letzte Geburtstag ist dem letzten runden Geburtstag noch nahe genug, dass das tolle Zehnerjubiläum noch nachschwingt und nachklingt. Wenn man so die halbe Strecke hinter sich hat – was ja objektiv gesehen in der Regel eh nicht stimmt –, dann ist man an einem geeigneten Punkt, zurückzublicken und nach vorn zu schauen.
Im Rückblick kann man sich Gedanken darüber machen, was war, was gut, vor allem aber auch, was schiefgelaufen ist, und da gibt es ja im Allgemeinen nicht wenig, über das man noch trauern, dem man noch nachweinen könnte. Wenn man so viele Ehen hinter sich hat, wie ich, könnte man sich fragen, was man falsch gemacht hat. Was war in der Jugend? Was war mit den vielen Gelegenheiten, die einem durch die Lappen gingen, weil man feig war, weil man zögerte, weil man es besser wusste? Was war mit der Pleite im Jahr 2000, was mit der folgenden Insolvenz? Aber auch: Was war mit all den Dingen, die an einem vorüberzogen, ohne dass man es mitbekam – und es gut so war, dass man es nicht mitbekam?
Lauter Überlegungen, die mir nicht liegen. Natürlich denke ich zurück. Natürlich steigt auch die Neigung, das nicht an irgendeinem Tag im Jahr zu tun, sondern am Geburtstag. Aber mal ehrlich – was bringt es? Mindestens zwei meiner Exfrauen waren Miststücke oder haben sich jedenfalls so benommen, und eine dritte war dumm; eine Erkenntnis, die ebenso wenig ändert, wie die, dass ich an den Miseren mindestens ebenso viel Schuld trug und trage und in mindestens einem Fall auch nicht wirklich alle Hirnzellen beieinander hatte. Oder der Sohn … Oder die Pleite, das Thema Geld, entgangene Gelegenheiten …

Es gibt nicht nur Menschen, die sich mit dem Grübeln über die Zukunft dieselbe versauen. Es gibt auch die, die immer nur zurückblicken – und damit das Gleiche erreichen. Ich werde meine Vergangenheit in Erinnerung behalten – sodass möglich ist, manchmal ist es lustig, dabei zuzuschauen, wie sich die Erinnerungen verändern, je länger man sie erinnert – und darauf hoffen, doch eines Tages noch die Gelegenheit zu haben, meine Erinnerungen aufzuschreiben, und wenn es nur ist, damit es mir Spaß macht. (Die Gefahr, zugegebenermaßen, ist groß, dass auch andere Menschen darunter zu leiden haben werden …).
Und die Zukunft? Nächstes Jahr werde ich wieder ein Jahr älter … Das allein ist eine Behauptung, keine Gewissheit, denn niemand kann mir garantieren, dass ich meinen nächsten Geburtstag noch erlebe. Niemand kann mir sagen, wann ich sterben werde, es sei denn, er markiert sich einen x-beliebigen Termin im Kalender und hilft dann nach. Niemand kann mir sagen, wo ich in drei, fünf, elf Jahren sein werde, auch wenn ich genau weiß, wo ich gerne – eigentlich schon seit vorgestern – sein würde.
Niemand kann mir sagen, ob ich die Rente, die ich nach bisherigen Berechnungen bekommen werde, auch wirklich bekommen werde; nicht nur, weil ich vielleicht vorher sterbe, sondern vielleicht auch, weil die Rentenversicherung vorher ihren Abschied nimmt. Niemand kann mir sagen, ob ich bis zum Schluss gesund sein werde und dann einfach umfalle, oder ob mir jahrelanges Siechtum bevorsteht. Niemand kann mir sagen, ob meine Lebensweise ein langes oder kurzes Leben zur Folge haben wird – geschweige denn, was ein »langes« oder »kurzes« Leben überhaupt ist –, niemand kann mir sagen, ob eine gesündere oder einfach andere Lebensweise etwas anderes zur Folge hätte, und wäre es nur, dass ich übermorgen an einer Salatvergiftung sterbe.
Niemand kann mir irgendwas sagen. Ich auch nicht.
Wozu also darüber nachdenken?

Ich denke über andere Dinge nach. Zum Beispiel über die Frage, wie es kommt, dass ich im Rückblick die meisten meiner Geburtstage für Terminverschwendungen halte. Wenn ich soundsoviele Geburtstage – oder eigentlich ja die Vollendung von Lebensjahren – gefeiert habe, müsste ich mich dann nicht auch so alt fühlen? Wozu habe ich Geburtstage gefeiert, die sich gar nicht auf mein gefühltes Alter auszuwirken scheinen? Ich könnte nicht sagen, wie alt ich mich eigentlich fühle – manchmal wie 30, manchmal wie 35, manchmal älter –, sicher ist aber, dass ich mich nicht so alt fühle, wie ich laut meiner Papiere bin. Und zwar einfach so, ohne mich darum zu bemühen; ich würde es nicht mit Gewalt schaffen, mich so alt zu fühlen, selbst, wenn dies mir zusätzliches Lebensglück bescheren würde.
Und dieses Gefühl – oder sollte ich von einem Gefühlsdefizit sprechen? Denn eigentlich fehlt mir ja das Gefühl für einige meiner vollendeten Lebensjahre … – hat noch andere Aspekte. Ich hasse eigentlich alle Leidenschaft für klassische Dinge, weil dies angemessen sei. Es gibt gute klassische Musik, unzweifelhaft; das meiste mag ich nicht, wenn es nicht wenigstens ein Walzer ist. Es gibt gute alte Filme – aber die kann ich an einer Hand abzählen; ich stehe eher auf moderne Tricktechnik, auf neuzeitliche Plots, auf rasanten, futuristischen Bildschnitt, lauter solche Dinge (und ohne Autoverfolgungsjagd taugt eh kein Film was). Ich liebe die alten Deep Purple von 1972, »made in Japan«, aber das ist auch schon alles, und »Oldies« sind für mich die elektronischen Musikstücke aus den 90ern, als es mit Techno und Trance losging, und die Klassiker sind Kraftwerk, Cluster, Moebius, Schulze.

Und die Zukunft? Wenn ich überhaupt über sie nachdenke – was ich natürlich tue, das macht man ja eigentlich fast unterbewusst –, dann nicht nur über den Ort, an dem ich meinen Lebensabend zubringen möchte (Malta, hier darf ich es ungestraft sagen), nicht nur über den Zeitpunkt, ab wann ich dort leben kann, nein, manchmal überlege ich auch schon, ob die erkleckliche Rente, so ich sie denn wirklich erhalte, auch reichen wird, um ohne Not zu leben, und vor allem denke ich an –
Ärger.
Es gibt Menschen, die denken sorgenvoll an die Zukunft. Das hatten wir schon. Es gibt Menschen, die denken so sorgenvoll an die Zukunft, weil sie Angst vor dem Tod haben. Ich habe in meinem letzten Lebensjahr öfter als zuvor Gedanken an diese Frage verschwendet. Versucht, herauszufinden, ob ich Angst vor dem Tod habe. Ich weiß natürlich nicht, ob sich das noch ändern wird, aber heute habe ich keine solche Angst. Natürlich muss ich die nicht haben – oder doch? Wäre ich beinharter Paranoiker, sollte ich sie haben, denn wir alle wissen – er, der Tod, ist hinter uns her. Aber gut.
Was ich bei dem Gedanken daran, dass ich eines Tages sterben werde, empfinde, ist Ärger. Ich weiß ganz genau, dass ich eines Tages in die Grube fahren werde und mich eigentlich nur darüber ärgere, dass mir nicht mehr Zeit geblieben ist, all die Dinge zu tun, die ich noch hätte tun wollen. Vor einigen Wochen habe ich den neuen Brandner Kasper (»Die Geschichte vom Brandner Kaspar«, imdb.de https://www.imdb.de/title/tt1148770/) bei Sky gesehen, den mit Bully Herbig als Tod, und ich erinnerte mich an die anderen Verfilmungen, die ich schon kannte, und ich erinnerte mich daran, dass ich die Geschichte in früheren Jahren nie wirklich gemocht hatte, sie hatte mir nicht nur nicht zugesagt, sie hat mir nichts gesagt, und diesmal … Abgesehen von dem herrlichen Herbig und dem nicht weniger tollen Franz-Xaver Kroetz war auch die Geschichte anders – in meinem Kopf, meinem Herz, wo auch immer. Diese Idee, dem Tod Jahre abzuluchsen, die man eigentlich nicht haben sollte …
Was ich eines Tages auf jeden Fall fühlen werde, wenn es so weit ist, das ist Ärger. Ärger darüber, ausgerechnet jetzt dann sterben zu müssen, wo noch so viel zu tun wäre, noch so viel unerledigt ist, noch so viele Dinge überhaupt nicht angepackt wurden. Himmikreizkruzefix!

Ein bisschen Ärger über Dinge der Vergangenheit könnte auch dabei sein. Nicht, dass ich drei Mal verheiratet war, drei Mal geschieden wurde, wogegen ich vielleicht auch etwas hätte tun können – aber wäre die erste Scheidung nicht gewesen, hätte ich die dritte Frau auch nicht kennengelernt. Nicht, dass mein Sohn lieber darauf verzichtet, mit mir zu kommunizieren, indem er vorgibt, dass ich dran schuld sei, anstatt zuzugeben, dass es ihm nur zu mühsam ist. Nicht über das Geld, das ich über all die Jahre sinnlos verballert habe. Nichts dergleichen. Vielleicht höchstens, dass ich meinem Vater nie wirklich dafür gedankt habe, dass er sich mit meiner Mutter einließ – und dass es dafür leider auch zu spät wäre –, und dass ich meiner Mutter noch nie wirklich dafür gedankt habe, dass sie meinen Vater »rangelassen« hat – was ich noch nachholen kann, zum Beispiel nächste Woche, wenn sie Geburtstag feiert. Aber welcher Ärger über die Vergangenheit auch immer dabei wäre, er wäre vernachlässigbar.
Der Ärger, der unüberwindlich wäre, wäre der über dieses viel zu frühzeitige Ende. Vielleicht ist es ja das, das Johannes Heesters immer noch da sein lässt …

2 Replies to “Die Hälfte ist rum”

  1. So weit sind wir gar nicht auseinander, in dieser Weltsicht. – Und diese Neigung, sich an seinem Geburtstag was Besondere zu gönnen – ganz gleich, aus welchem Grund -, statt irgendwelche Partygäste zu bespaßen, die finde ich auch für mich sehr schön :)

  2. Ich kann Deine Gedanken nachvollziehen, denke heute aber etwas anders. 2001 verstarb mein Lebensgefährte von jetzt auf gleich, ohne jede Vorwarnung, und seitdem lebe ich nach dem Motto „carpe diem“.
    Die Vergangenheit ist wichtig, aber nur insofern als ich mit ihr ins Reine kommen muss. Ansonsten ist alles Schnee von gestern. Ändern kann ich nichts mehr, auch nichts wiedergutmachen. Ich kann höchstens das , was ich früher schlecht gemacht habe, heute gut machen.
    Über das Morgen versuche ich mir nicht zu viele Gedanken und vor allem keine Sorgen zu machen. Manche Dinge müssen geplant werden, fertig. Aber fest in Händen habe ich nur den heutigen Tag.
    Und wenn Du Geld verpulvert hast, finde ich das prima. Davon hast Du wenigstens etwas gehabt. In die Grube mitnehmen kannst Du sowieso nichts.
    Bodo hatte sich kurz vor seinem Tod ein Rennrad für einen Preis gekauft, für den manch einer einen Kleinwagen erworben hätte. Jeder, auch ich, hielt ihn für total bekloppt; denn so dicke hatte er es auch nicht. Und mit dem Teil sauste er zwei Wochen richtig glücklich und zufrieden durch Mallorca, wo er dann einem Herzstillstand erlag. Gut, dass er die Kohle für etwas ausgegeben hat, woran er richtig Spaß hatte, egal, ob das in anderen Augen bekloppt ist.
    Ein Jahr später hatte ich übrigens keine Lust, meinen 50. zu feiern und bin ganz alleine für drei Tage nach London abgehauen – und das war gut so.

    Ich stehe manchmal übrigens ungläubig vor meinem Alter und wundere mich, wo die Zeit geblieben ist. (Nur bis zum Ruhestand kommt sie mir so endlos lang vor).
    Ein bisschen spinnen darf man ja: Ich siedle später auch nach Malta um und komme nur ab und zu zurück, wenn hier mal Schnee liegt.